Der Schock über das Erdbeben in der Türkei und Syrien sitzt tief. Die Katastrophe war auch ein Warnschuss, denn Experten erwarten ein Superbeben in Istanbul. Fest steht: Es wird kommen.Nach dem schweren Erdbeben entlang der türkisch-syrischen Grenze bangen unzählige Menschen um das Leben von Freunden und Angehörigen. In beiden Ländern zusammen starben schon deutlich mehr als 10.000 Menschen bei der Katastrophe, viele Orte wurden zur Trümmerwüste.Doch während die Bergungsarbeiten noch laufen, blicken Experten schon nach vorn. Denn das verheerende Beben ist auch ein Warnschuss für die Türkei: Seit Jahren schon warnen Experten vor einem Superbeben in unmittelbarer Nähe zu Istanbul – tritt das schlimmste Albtraumszenario ein, könnten bis zu 100.000 Todesopfer zu beklagen sein.Das ist bislang nur eine schreckliche Prognose. Fest steht aber: Dieses Beben wird kommen. Entscheidend wird deshalb sein, wie gut sich die Türkei darauf vorbereitet. „Wie eine Feder, die man in die Länge zieht““Die Frage ist nicht, ob es zu einem Erdbeben in Istanbul kommen wird, sondern wann. Vielleicht morgen, vielleicht in 50 Jahren oder vielleicht dauert es noch länger“, meint der Kieler Geophysiker Dietrich Lange vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung im Gespräch mit t-online. „Das kann auch die Erdbebenforschung nicht genau voraussagen.“Lange hat schon vor mehreren Jahren erhebliche tektonische Spannungen vor den Toren der Stadt entdeckt. Der Abschnitt der Nordanatolischen Störung – also eine Störung im Kontaktfeld zweier Platten –, die er und seine Kollegen untersucht hatten, liegt unterhalb des Marmarameers, dem Übergang zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer.Die Geophysiker wollten herausfinden, ob sich die Plattengrenzen dort bewegen oder verhaken. Dafür haben die Forscher zweieinhalb Jahre lang mit einem speziellen Messsystem Daten in 800 Metern Wassertiefe gesammelt.Das Ergebnis: Südlich von Istanbul gibt es eine 30 Kilometer lange Lücke im Untergrund, wo sich die Spannung zwischen den Erdplatten lange Zeit nicht entladen hat. Und das ist brandgefährlich.“Wir wissen aber aus historischen Aufzeichnungen, dass es in der Region schon schwere Beben gegeben hat“, so Lange. „Es ist wie eine Feder, die man in die Länge zieht. Je länger sie wird, desto mehr Spannung baut die Feder auf.“Sorgen bereitet den Forschern dabei vor allem die Verwerfung im Marmarameer, wo die Anatolische und die Eurasische Platte aufeinandertreffen. Das führte zwar auch in der Vergangenheit immer wieder zu kleineren Beben – eine große Entladung der Spannung steht aber in der Region seit Hunderten Jahren aus. Folgen eines Superbebens wären fatalIm nahegelegenen Istanbul kommen deshalb gleich mehrere Gefahrenherde zusammen. Einerseits leben in und um die türkische Metropole offiziell 15,5 Millionen Menschen, wobei die tatsächliche Bevölkerungszahl wahrscheinlich noch viel höher ist. Andererseits dürfte das erwartete Beben extrem stark ausfallen, wie Experte Lange erklärt: „Es könnte eine Stärke von 7,1 bis 7,4 erreichen.“Die Folgen eines solchen Superbebens in Istanbul wären kaum auszudenken: Eine Studie der türkischen Stiftung für urbane Transformation (Kentsev) ergab, dass 1,2 Millionen Gebäude in Istanbul betroffen sein würden, 13.000 Häuser könnten einstürzen. Wenn das Beben über Nacht käme, wenn viele Menschen zu Hause sind und schlafen, rechnen Experten im schlimmsten Fall mit 100.000 Todesopfern. Ein Grund dafür ist auch die Bausubstanz. Viele Gebäude in Istanbul sind alt und könnten einem heftigen Erdbeben wahrscheinlich nicht standhalten. Hinzu kommt, dass die Menschen vor Ort noch kein großes Beben in der Region erlebt haben und die Gefahr deshalb wohl nicht so ernst nehmen.Das zeigt sich auch im baulichen Wildwuchs: Oft entstehen neue Häuser da, wo gerade Platz ist. Nicht selten kommt Material zum Einsatz, das günstig zu haben ist und nicht den höchsten Qualitätsansprüchen genügt.Zwar gibt es auch in Istanbul mittlerweile Bauvorschriften, die der Erdbebengefahr Rechnung tragen. Allerdings ist fraglich, ob sich die Bauunternehmen wirklich daran halten. Korruption im Baugewerbe ist in der Türkei weitverbreitet, zudem zwingt die Währungs- und Wirtschaftskrise die Menschen zum Sparen.Selbst wenn die Prestigebauten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan erdbebensicher gebaut sein sollten – der Großteil der Wohnhäuser in Istanbul ist es wahrscheinlich nicht. „Ziehen Sie weg aus dem Zentrum Istanbuls“Und damit nicht genug. Der zentrale Teil Istanbuls ist ans Ufer des Bosporus gebaut, an einen Hang. Im Falle eines Superbebens müsste die Millionenstadt nicht nur mit Gebäudeschäden rechnen, sondern auch mit Hochwasser und Erdrutschen. Zwar rechnen Experten nicht mit einem Tsunami, trotzdem wäre ein solches Beben für die Bevölkerung in Istanbul eine Katastrophe von apokalyptischem Ausmaß. Trümmer von Häusern, kaum Fluchtwege und viel zu wenig Rettungskräfte für die große Anzahl an Menschen. Seit Jahrzehnten warnen türkische Wissenschaftler vor der Gefahr durch ein Superbeben. Der türkische Geologe Celâl Şengör gehört international zu den anerkanntesten Erdbebenexperten. Der 67-Jährige war lange Zeit Professor an der Technischen Universität Istanbul (ITÜ), die in Erdbeben-Fragen gut aufgestellt ist und stets über gute Messdaten verfügt – wie auch Lange t-online bestätigt. Das Erdbeben im Südosten der Türkei und in Syrien am Montag war mit einer Stärke von 7,5 zwar verheerend, aber Şengör ist vor allem aufgrund eines Bebens im vergangenen Jahr besorgt. Am 22. November 2022 bebte die Erde in Düzce, 200 Kilometer von Istanbul entfernt, mit einer Stärke von 5,9. 80 Menschen wurden verletzt. Für Istanbul sei das eine „furchtbar schlechte Nachricht“, sagte Şengör dem TV-Sender Habertürk. „Ich warne Istanbul.“ Das sei vielleicht die „letzte Warnung“, und an den TV-Moderator gewandt, fügte er hinzu: „Ziehen Sie weg aus dem Zentrum Istanbuls. Das Istanbul-Beben ist ziemlich nahe.“Auch Şengör weiß nicht, wann genau sich die Spannungen zwischen den Kontinentalplatten in der Region entladen werden.Doch eines steht fest: Das jüngste Beben im Südosten des Landes ist ein Warnschuss für die Millionenstadt Istanbul. Auch wenn es keine ultimative Sicherheit vor dem Superbeben gibt – die türkische Regierung und die Stadtverwaltung können jetzt noch die Überlebenschancen ihrer Bürgerinnen und Bürger verbessern.