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Frankreich
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Küste der Saurier

Versteinerte Schnecken und Austern machen die Küste um Villers-sur-Mer in der Normandie zum perfekten Ziel für Strandläufer mit Faible für Fossilien.

Ein grüner Saurier beherrscht das Zentrum von Villers-sur-Mer. Es ist, als betrachte er das Seebad-Idyll, das sich vor ihm ausbreitet: den bei Ebbe nahezu unendlichen Strand, die hübschen Häuser mit ihren spitzen Giebeln, schmiedeeisernen Balkons und normannischem Fachwerk sowie die Restaurants, die ihre Außenbestuhlung mit Planen vor der Brise schützen. Die Anwesenheit der begrünten Saurier-Figur ist nicht die einzige Auffälligkeit des Städtchens. Die Promenade zieren überdimensionale Abbildungen versteinerter Schnecken. Und wer am Strand in Richtung der Falaises des Vaches Noires läuft, einer Gruppe von Felsen, die manchen an schwarze Kühe erinnern, hört das Klopfen von Hämmern: Fossiliensammler, die der Steilküste zu Leibe rücken, um versteinerte Pflanzen, Tiere oder vielleicht sogar einen Dinosaurierzahn zu finden. Erlaubt ist das nicht, da die Steilküste ohnehin mit Erosion zu kämpfen hat. Viele Fossilien lösen sich von selbst aus bröselnden Klippen und fallen auf den Strand hinab, weshalb Strandwanderer hier über kleine Fossilien geradezu stolpern.

Das prähistorische Erbe dieses Küstenabschnitts wäre manchem Hobby-Paläontologen indes auch mehr als eine Ordnungswidrigkeit wert. Schließlich weiß man nie, ob man nicht einen Fund macht wie 1998 der Bürgermeister des – 200 Kilometer nordöstlich gelegenen – Dorfs Conteville. André Dubreuil bemerkte 1994 bei städtischen Arbeiten in einem Steinbruch eigentümliche Knochen. Er sicherte ein Schädelteil und mehrere Rippen und verständigte das Nationalmuseum für Naturgeschichte in Paris. Zwar sollte es vier Jahre dauern, bis die Ausgrabungen aufgenommen wurden. Doch trägt der Fleischfresser aus dem Mittleren Jura, der schließlich aus 2000 Fragmenten rekonstruiert wurde, zu Ehren des Finders den Namen Dubreuillosaurus.

Nachdem das Pariser Museum die fossilen Überreste zunächst der eigenen Sammlung einverleibt hatte, ist der fünf Meter lange Saurier seit einigen Jahren im 2011 eröffneten Paläontologischen Museum Paléospace in Villers-sur-Mer zu Hause – zusammen mit zwei weiteren der größten prähistorischen normannischen Fleisch- und Pflanzenfresser, dem Streptospondylus und dem Lexovisaurus. Die drei sind in Gesellschaft kleinerer Zeitgenossen ausgestellt und so geschickt beleuchtet, dass sie trotz der Reduzierung aufs Gerippe erstaunlich echt wirken.

Rund 60.000 Besucher schauen sich in pandemiefreien Jahren das sehenswerte Museum an, das auch ein eigenes Planetarium besitzt, vor allem aber die Prähistorie darstellt. Es erklärt, wie ein Tier zum Fossil wird, warum schwimmende Urwesen keine Dinosaurier, sonder Meeresreptilien sind, wie man ein Fossil präpariert und nebenbei auch, was es mit dem Greenwich- oder Nullmeridian auf sich hat. Villers-sur-Mer ist nämlich nicht nur eine prähistorische Fundgrube, das Städtchen mit 2600 Einwohnern ist auch der nördlichste Ort Festlandeuropas, durch den der Nullmeridian verläuft – ein senkrechter Halbkreis auf dem Globus, der Nord- und Südpol mitei­nander verbindet und im rechten Winkel zum Äquator steht. Auf der Promenade ist diese gedachte Linie auf den Boden gezeichnet, im Museum wird sie erläutert. Mit einem um das Jahr 1900 entstandenen Thron aus Fossilien und Beton ist hier auch das womöglich einzige fossilienbasierte Kunstwerk in Europa zu sehen. Ferdinand Postel, ein Künstler und Fotograf, der 1917 verstarb, schuf das 200 Kilogramm schwere Exponat.



 Schneckensymbol auf der Promenade von Villers-sur-Mer


Schneckensymbol auf der Promenade von Villers-sur-Mer
Foto: Stefanie Bisping

Wer keine Tafeln lesen möchte oder noch nicht lesen kann, bekommt im Museum ein Tablet zum Spiel „Jurassic Quest“ in die Hand gedrückt. Wer mehr wissen möchte, kann sich über die Arbeit von Paläontologen informieren oder eine Exkursion zu den Klippen buchen. Dem kleinen Seebad, das lange im Schatten der glamouröseren Nachbarn Deauville und Cabourg stand, haben die Saurier ein Alleinstellungsmerkmal an der Côte Fleurie, der Blumenküste, beschert.

Auf dem Küstenabschnitt zwischen Villers-sur-Mer und Houlgate, einem Seebad mit Strand, Casino und 300 Villen, ist bei Ebbe nicht nur die Gesteinsformation der Vaches Noires, der schwarzen Kühe zu sehen, Strandwanderer sollten schon deshalb der Versuchung widerstehen, jede versteinerte Auster mitzunehmen, die zu ihren Füßen liegt. Denn Fossilien sind deutlich schwerer als Muscheln und Austernschalen, was immerhin größere Brocken mit Hunderten von Versteinerungen darin vor Mitnahme schützt.

„Ich wünsche mir, dass die Klippen so geschützt werden wie die englische Jurassic Coast“, erklärt Laurent Picot, wissenschaftlicher Leiter von Paléospace, und schaut wehmütig aufs Meer hinaus. Der Paläontologe stammt aus dem normannischen Küstenstädtchen Granville, lehrte und forschte in Deutschland, Österreich und der Schweiz und ist seit 2009 im Paléospace tätig, an dessen Konzeptionierung er vor der Eröffnung beteiligt war; er leitet auch persönlich Führungen durchs Museum und zu den Falaises des Vaches Noires. 150 Kilometer der Küste Dorsets und East Devons auf der anderen Seite des Ärmelkanals zählt die Unesco zum Weltnaturerbe. „Aber bei uns dreht sich immer alles um die Landungsstrände, die Impressio­nisten und den Teppich von Bayeux“, sagt Picot. Unterstützung für seinen Wunsch erhalte er von den Tourismusverbänden des Départements nicht. Vielmehr gebe es Bestrebungen, der Unesco die Landungsstrände als Welterbe vorzuschlagen, die ja nun bei aller historischen Bedeutung wahrlich kein kulturelles Erbe repräsentierten. Tatsächlich ist die Kulturbehörde der Vereinten Nationen unsicher, ob Schauplätze historischer Konflikte auszeichnungswürdig sind.

Laurent Picot schüttelt den Kopf und richtet den Blick zu Boden. Außer Steinen, Muscheln und Fossilien legt das Meer bei Niedrigwasser auch Stücke roten Backsteins frei – Überreste von Häusern, die im Lauf der Zeit von den Klippen gestürzt sind. Die Ruine einer Disco, die 1975 eröffnete und in der bei Meerblick getanzt wurde, beweist, dass Abstand vom Meer die Dauerhaftigkeit von Immobilien an der Côte Fleurie signifikant erhöht. Schon in den 1980er-Jahren schloss der Tanzpalast und verabschiedete sich Stück für Stück in den Abgrund. Jetzt haben Wissenschaftler unterhalb der verbliebenen Mauern eine Messstation eingerichtet. Sie soll helfen herauszufinden, ob oder wie der Klimawandel die Erosion an der Küste begünstigt.

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