Thüringen? Ein Land voll Wälder und Berge, der ICE von Berlin nach München rauscht hier durch, zwei Millionen und ein paar Einwohner, nicht viel mehr als Hamburg, das sind knapp 2,5 Prozent aller Deutschen. Eine eher vernachlässigenswerte Größe. Die Hauptstadt heißt Erfurt und der Ministerpräsident seit heute, 13.29 Uhr, Thomas L. Kemmerich.Ist das wichtig? In Thüringen haben schon ein Mann namens Josef Duchac und eine Frau Christine Lieberknecht regiert, und Wald und Berge stehen immer noch. Landschaft und Leute haben auch fünf Jahre Bodo Ramelow und die erste rot-rot-grüne Regierung in der Geschichte der Republik unbeschadet überstanden. Sie werden auch Kemmerich überstehen. Womöglich dauert es auch gar nicht so lange.Thüringen MP-Wahl MinderheitsregierungEine Art Zeitenwechsel ist diese sensationelle Wahl trotzdem. Sie markiert einen Kultur- wie einen Epochenbruch in der bundesdeutschen Geschichte. Kemmerich ist der erste FDP-Mann an der Spitze eines Bundeslandes, seit Werner Klumpp im Sommer 1979 mal kommissarisch für ein paar Tage das noch kleinere Saarland regieren durfte. Er ist der erste Ministerpräsident, der über keine stabile Mehrheit verfügt; er war bislang Chef einer fünfköpfigen FDP-Fraktion, die bei der Wahl im vergangenen Herbst nur mit äußerster Mühe und wenigen Stimmen über den Durst in den Landtag gekommen war.FDP-Mann Thomas Kemmerich (l.) ist auch mit den Stimmen der AfD, hier Landesparteichef Björn Höcke, gewählt worden© Jens SchlueterKemmerich – erster Regierungschef von Gnaden der AfDVor allem aber: Thomas L. Kemmerich ist der erste deutsche Regierungschef von Gnaden der AfD. Mehr noch: von Gnaden der AfD des Parteirechtsaußen Björn Höcke. Die AfD-Fraktion muss im dritten Wahlgang geschlossen für den Freidemokraten gestimmt haben – ihr eigener Kandidat Christoph Kindervater erhielt keine einzige Stimme. Man muss den Rechtspopulisten das lassen: Das war eine taktische, wenn nicht sogar strategische Meisterleistung.Sie haben damit das Maximum dessen erreicht, was sie erreichen konnten und mutmaßlich auch erreichen wollten: Sie haben Thüringen in die Unregierbarkeit getrieben – mit Hilfe jener 18 von 21 CDU-Abgeordneten, die Kemmerich ihre Stimme gegeben haben müssen, obwohl denen das Risiko bewusst gewesen sein muss, dass sie damit der AfD in die Hände spielen. Nicht wenige von ihnen sind es gerne eingegangen. Die Thüringer CDU ist gespalten. Etliche CDU-Abgeordneten hätten sogar eine Koalition mit der AfD gebildet, wenn die Bundespartei sie gelassen hätte. Nun haben sie zumindest ein Etappenziel auf Umwegen erreicht. Glückwunsch aber auch.Thüringen Minderheitsregierung_12.10Der Fünf-Prozent-Partei-Regierungschef Kemmerich, der offenbar selbst nicht an seine Wahlchance geglaubt hatte, muss nun sehen, wie er Mehrheiten im Landtag für sich und seine Politik organisiert – ohne den Kultur- und Epochenbruch auf die Spitze zu treiben und mit der AfD offensiv gemeinsame Regierungssache zu machen. Er wollte mit seiner Kandidatur dafür sorgen, dass Rot-Rot-Grün abgelöst wird. Das hat er geschafft. Womöglich hat er damit schon seinen politischen Höhepunkt erreicht. Denn Unregierbarkeit nutzt nur einer Partei: der AfD. Sie würde im Übrigen auch als einzige davon profitieren, wenn Kemmerich nun mit Hilfe von SPD, Linken und Grünen regieren würde. Er hätte damit erstens sein Versprechen gebrochen und zweitens ergäbe sich das Bild des Altparteienkartells, das sich gegen die AfD verbündet. Kemmerich hat keine Chance, die er nutzen könnte. Wie gesagt: eine Meisterleistung der AfD.Eine Meisterleistung der AfDIst das schlimm? Ja – weil man die Folgen nicht unterschätzen sollte, auch wenn das Land Thüringen noch so unbedeutend ist. Man muss dazu nur den Unglücksraben Ramelow zitieren, aus seiner letzten Regierungserklärung. Die von ihm angestrebte Minderheitsregierung habe „Vorbildcharakter“, für andere Bundesländer, womöglich sogar für den Bund. Wenn es so ausgeht, wäre es besser, die Finger von weiteren Versuchen zu lassen.In Zeiten von Sechs-Parteien-Parlamenten und immer schwieriger werdender  Mehrheitsbildung sollten sich alle genau überlegen, wen sie in ihrer geheimen Wahl wählen. FDP und CDU müssen sich jedenfalls vorwerfen lassen, dass sie mit ihrem zumindest fahrlässigen Wahlverhalten im Thüringer Landtag das Geschäft der AfD besorgt haben. Auf Wiederholungen sollten alle künftig verzichten, wenn sie an einer stabilen Demokratie interessiert sind.

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