Von einem „Dammbruch“ ist die Rede, von einem „Tabubruch“ in der deutschen Politik: FDP-Politiker Thomas Kemmerich hat sich im Erfurter Landtag mit den Stimmen der AfD-Fraktion zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lassen. Die Wahl hat nicht nur in Thüringen, sondern in ganz Deutschland ein politisches Erdbeben ausgelöst. Zwar hat Kemmerich mittlerweile – nur einen Tag nach seiner Wahl – bereits seinen Rücktritt angekündigt, seine Fraktion will einen Antrag auf Auflösung des Landtags stellen und damit den Weg für Neuwahlen freimachen. Dennoch werden die Liberalen als „Steigbügelhalter“ der rechtsnationalen AfD kritisiert. Vor der Berliner Parteizentrale der FDP protestierten am Abend der Wahl hunderte Menschen – für die Partei droht das politische Manöver zu einer Zerreißprobe zu werden.Thüringen Ticker Dreh 0940So manche Äußerungen aus der FDP erhalten nun einen schalen Beigeschmack. Parteichef Christian Lindner wird von seinen eigenen Worten eingeholt: Nach der Bundestagswahl hatte er die Jamaika-Koalition mit Grünen und CDU platzen lassen, weil er seine Vorstellungen nicht durchsetzen konnte. „Lieber nicht regieren als falsch regieren“ – so hatte Lindner damals den Rückzug aus den Verhandlungen begründet. Dieses mittlerweile geflügelte Wort wurde den Liberalen nach der Abstimmung in Erfurt vorgehalten. Die Linke verbreitete in den sozialen Netzwerken ein fingiertes FDP-Wahlplakat mit der Aufschrift: „Lieber mit Faschisten regieren als nicht regieren.“FDP-Ministerpräsident Kemmerich erteilte im Wahlkampf der AfD eine AbsageIn den Wochen und Monaten vor der Landtagswahl in Thüringen hatte die FDP immer wieder mit klaren Worten eine Zusammenarbeit mit der AfD um Björn Höcke ausgeschlossen. Dokumentiert sind diese Äußerungen unter anderem auf Twitter – und dort werden sie nun von empörten Usern wieder hervorgeholt, um der FDP Heuchelei vorzuwerfen. Der neue Ministerpräsident Kemmerich hatte im Wahlkampf noch mit klarer Abgrenzung nach rechts geworben. „Endlich eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat“, stand auf den Wahlplakaten des Spitzenkandidaten, als Anspielung auf dessen kahlgeschorenen Kopf.Auch nach der Landtagswahl, deren Ergebnis keine klaren Mehrheiten zugelassen hatte, betonte Kemmerich, dass er mit der AfD nicht kooperieren wolle. Auf ein Schreiben des AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke, in dem dieser Gespräche angeboten hatte, antwortete Kemmerich via Twitter, dass „wir an unserem Entschluss festhalten werden, mit Herrn Höcke und seiner Partei keine, wie auch immer geartete, Zusammenarbeit einzugehen“.FDP: Diskrepanz zwischen Worten und TatenDiese Linie verfolgt die FDP seit Jahren: Schon 2016 hatte Christian Lindner mit markigen Worten der AfD eine Absage erteilt. In einem Interview mit „Tichys Blog“, aus dem die Liberalen auch auf ihrer Website und ihrem Twitter-Account zitierten, erklärte Lindner damals, Unzufriedenheit mit der Politik der großen Parteien sei kein Grund, seine Stimme der AfD zu geben. „Ich kann von der Wahl der AfD aus Protest nur abraten. Wenn das Bier in der Kneipe nicht schmeckt, trinkt man ja aus Protest auch nicht aus der Toilette“, so der Parteivorsitzende. Mit den Stimmen der AfD-Abgeordneten das Amt des Ministerpräsidenten in Thüringen zu erobern, passt für viele Beobachter nicht zu dieser Maxime. Ohnehin ist es die Diskrepanz zwischen den Worten und Taten der Liberalen, die die User auf Twitter der FDP ankreiden. Abgrenzungen gegen die AfD, gegen Rassismus und Antisemitismus sind für viele nach den denkwürdigen Ereignissen in Thüringen nur noch Lippenbekenntnisse. Noch in der Woche vor der Wahl von Thomas Kemmerich hatte die FDP einen Tweet abgesetzt, mit dem sie der Opfer des Holocaust gedachte. Daneben montierte ein User das ikonische Bild von Kemmerich, wie er im Landtag die Glückwünsche von Björn Höcke entgegennimmt.Zwar hat Kemmerich in seiner Antrittsrede im Landtag ebenso wie in den folgenden Interviews erklärt, weiterhin eine „Brandmauer“ gegen Extremismus bilden und nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten zu wollen. Doch Fakt ist eben auch: Kemmerich hatte das Amt des Ministerpräsidenten nur dank der AfD-Stimmen übernehmen können. Und auch wenn er nicht einmal 24 Stunden später nach massivem Druck wieder zurückruderte – bei den Wählern scheinen die Liberalen dennoch viel Vertrauen verloren zu haben.

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