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Seit mehr als sechs Wochen befindet sich die Ukraine mit Russland im Krieg. Was macht das mit den Soldaten, Herr Annen?

Krieg ist eine Extremsituation für Soldaten. Sie schlafen wenig, die Ernährung ist schlecht und sie stehen dauernd unter Adrenalin, weil ihr Leben Tag und Nacht in Gefahr ist. Außerdem sind die Soldaten die ganze Zeit zwangsläufig zusammen und voneinander abhängig. Dieses Zusammensein in der Gruppe kann als belastend wahrgenommen werden, gerade weil die Führungskultur in der russischen Armee stark auf Befehl und Gehorsam basiert. Das führt oft auch dazu, dass sich die Grenzen des ethisch-moralischen Handelns verschieben. Die sechs Wochen Krieg sind auch sehr zermürbend, denn das Ende des Kriegs und damit des persönlichen Einsatzes dafür ist nicht absehbar.

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Die Berichte von Massakern und Vergewaltigungen in mehreren Städten der Ukraine haben die ganze Welt erschüttert. Haben Sie die Berichte überrascht?

Nein, ich war nicht überrascht. Denn in allen Kriegen gab es Vergewaltigungen und andere Kriegsverbrechen. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich Wissenschaftler gefragt, wie ganz normale Männer zu solchen Handlungen fähig sind. Auch in friedenserhaltenden Einsätzen, wie im Fall von Abu Ghraib im Irak-Krieg, haben wir gesehen, dass sogar Frauen fähig sind, andere Menschen zu erniedrigen und zu demütigen.

Warum tun Soldatinnen und Soldaten so etwas?

Es sind verschiedene Faktoren: Krieg ist ein Ausnahmezustand und die russische Kriegsrhetorik degradiert den Feind und Gegner zu einem Menschen zweiter Klasse. Das senkt die Hemmungen für solche Taten. Beim Völkermord in Ruanda haben Soldaten auch die Angehörigen der Stämme umgebracht, die sie als Menschen zweiter Klasse betrachtet haben. Solche Beispiele gibt es zuhauf. Hinzu kommt, dass die Soldaten sich nun sechs Wochen in einem weitgehend gesetzlosen Raum aufhalten. Sie können in ein Haus eindringen und plündern, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Das ist auch aus psychologischer Sicht ein ganz wesentlicher Faktor. Es wird nicht geahndet, wenn ein Soldat eine Frau des Gegners vergewaltigt. Wir müssen davon ausgehen, dass die Vorgesetzten solche Taten in Kauf nehmen oder sogar billigen.

Ist es denn überhaupt denkbar, dass ein Befehl ausgeht, Frauen zu vergewaltigen?

Ich gehe nicht davon aus, dass den Soldaten morgens gesagt wurde, sie sollen auf die Straße gehen und Frauen vergewaltigen. Aber gerade im Fall einer militärischen Niederlage wie in Kiew, könnten Soldaten aus Trotz und Enttäuschung sagen: Wenn wir uns schon zurückziehen müssen, dann wollen wir unsere Macht vorher noch einmal demonstrieren.

Weil das die Ukraine von Innen angreift?

Genau, Vergewaltigungen und andere Gräueltaten können die Moral der gegnerischen Zivilbevölkerung zerstören. Das ist eine Reaktion auf den enormen Widerstand und die hohe Moral in der ukrainischen Bevölkerung. Die Gruppendynamik spielt auch eine Rolle. Die Soldaten sind von ihrer Gruppe, die ihnen ja letztlich auch Schutz bietet, abhängig, und machen mit, weil sie nicht als Schwächling angesehen werden wollen. Außerdem weiß man, dass die Rekruten in der militärischen Ausbildung Russlands schikaniert werden. Junge Soldaten erleben oft pure Aggression auch von älteren Soldaten oder ihren Vorgesetzten. Das Ausüben von Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung kann somit mit einer niedrigen Gewaltschwelle und dem Weitergeben erlebter Aggressionen in Verbindung gebracht werden. Das entschuldigt nicht ihre Gräueltaten an Zivilisten, aber es erklärt sie.

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Müsste man nicht mit dem gesunden Menschenverstand gegenhalten können?

Normalerweise schon, aber bereits im normalen Leben erleben wir selbst, wie schwierig es ist, sich der Gruppenmeinung zu widersetzen oder eine soziale Dynamik zu durchbrechen. Es ist zwar möglich, braucht aber eine ausgeprägte Werthaltung und auch eine mentale Vorbereitung.

Worum geht es bei Vergewaltigungen im Krieg überhaupt: Lust? Macht? Demütigung?

Natürlich handeln die Soldaten auch getrieben von Testosteron. Es werden bestimmte Triebe ausgelöst, die Männer im Krieg dann ausleben. Auch wenn es angesichts von Krieg und Gewalt nur schwer vorstellbar ist, geht es bei Vergewaltigungen im Krieg auch um Lust. Sonst würden Soldaten das nicht tun. Das erklärt aber nur einen Teil. Wahrscheinlich geht es um Demütigung aller gegnerischen Männer. Mit der Vergewaltigung sendet der Soldat seinen Gegnern das Signal, sie könnten nicht einmal ihre eigenen Frauen schützen. Dadurch erniedrigt man nicht nur die Frauen des Gegners, sondern kann auch die Moral der gegnerischen Gesellschaft zerstören.

Von Sven Christian Schulz /RND

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