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Klaus Reinhardt ist seit Mitte 2019 Präsident der Bundes­ärztekammer. Daneben arbeitet der Allgemeinmediziner weiter in seiner Hausarztpraxis in Bielefeld.

Herr Reinhardt, die Bundes­ärztekammer hat ein Portal freigeschaltet, auf dem sich Ärztinnen und Ärzte für einen Einsatz in der Ukraine oder den Nachbarländern registrieren können. Wie sind die Rückmeldungen?

Die Resonanz ist sehr beeindruckend. Bisher haben sich über 1100 Kolleginnen und Kollegen gemeldet. Das zeigt, wie groß die Solidarität in der Ärzteschaft mit den Menschen in der Ukraine ist. Ein Einsatz dort kann schließlich lebensgefährlich werden. Wir sind gegenwärtig mit dem Auswärtigem Amt, dem Bundes­gesundheits­ministerium und den Botschaften der Ukraine und der Anrainerstaaten im Gespräch, wie die Ärztinnen und Ärzte so sinnvoll wie möglich eingesetzt werden können. Aus den Nachbarstaaten liegen der Bundesregierung noch keine Bedarfsanzeigen vor. Für Einsätze in der Ukraine selbst muss die Sicherheit gewährleistet sein. Wir sind aber vorbereitet. Sobald uns die Regierung Bedarf für Einsätze im Rahmen internationaler humanitärer Missionen meldet, können wir ausreichend Ärztinnen und Ärzte vermitteln.

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Gibt es einen Überblick, wie viele Kranke oder Verletzte schon in Deutschland behandelt werden?

Gute Frage. Die Zahl der offiziell in Deutschland registrierten aus der Ukraine Geflüchteten lag Anfang April bei mehr als 320.000. Aber die wahre Zahl liegt nach Angaben des Bundes­innenministeriums wahrscheinlich wesentlich höher, weil keine Einreisekontrollen stattfinden. Uns fehlt deshalb leider auch der genaue Überblick, wie viele Kranke und Kriegsverletzte sich in Deutschland befinden. Organisatorisch ist Deutschland nicht gut aufgestellt, um Erkrankte und Schwerverletzte, die in der Ukraine nicht versorgt werden können, zu behandeln. Es muss zentral organisiert werden, wer die Betroffenen ausfliegt und wie sie in Deutschland zur Behandlung verteilt werden. Ich finde es angesichts des unermesslichen Leids, das die Bevölkerung erlebt, völlig unverständlich und fahrlässig, dass diese Fragen noch nicht geklärt sind.

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Ist die medizinische Versorgung der nach Deutschland Geflüchteten gewährleistet?

Ja, aber was die Organisation angeht, sind wir auch hier nicht zufrieden. Nur in neun Bundesländern gibt es ein unkompliziertes Verfahren, bei dem die Geflüchteten schnell eine elektronische Gesundheitskarte erhalten. Woanders herrscht Zettelwirtschaft mit Behandlungs­scheinen. Ärztinnen und Ärzte müssen sich auf die medizinische Behandlung konzentrieren können, nicht auf das Ausfüllen von Formularen. Dieser föderale Flickenteppich ist unerträglich.

Viele Geflüchtete benötigen vor allem psychologische Betreuung, weil sie Schlimmes durchgemacht haben. Kann diesen Menschen geholfen werden, schließlich gibt es in der Psychotherapie ohnehin schon lange Wartzeiten.

Wir werden ihnen in dieser Hinsicht aus Kapazitätsgründen nur unzureichend helfen können, da muss man ehrlich sein. Ich möchte aus meinen eigenen Erfahrungen berichten: Meine Frau gibt Geflüchteten seit Jahren ehren­amtlich Deutsch­unterricht. Jetzt hat sie 15 ukrainische Kinder – zwei davon sind nach ihren Beobachtungen hochauffällig. Gerade habe ich mit dem Geschäftsführer des Klinikums Bethel in Bielefeld gesprochen. Er berichtete, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu 150 Prozent ausgelastet ist. Das zeigt exemplarisch die Problemlage. Nicht nur Dolmetscher fehlen, sondern auch das medizinische Fachpersonal.

„Zahl der Studienplätze erhöhen“

Unter den Geflüchteten sind sicherlich auch Ärzte und Pflegekräfte. Können sie schnell in Deutschland eingesetzt werden?

Im ärztlichen Bereich gibt es die Möglichkeit, vor einer regulären Approbation sogenannte Berufserlaubnisse zu erteilen. Dafür müssen dennoch ausreichende Sprachkenntnisse vorhanden sein. Außerdem muss sichergestellt sein, dass diese Ärzte unter Aufsicht arbeiten. Aber ich glaube, gut organisiert und vernünftig gemacht, ist da durchaus einiges möglich. Ich appelliere an die zuständigen Landesbehörden, Anträge für eine Berufserlaubnis schnell zu prüfen. Das hilft uns und den betroffenen Ärztinnen und Ärzten aus der Ukraine.

Damit sind wir beim Thema Fachkräftemangel – eines der Themen auf dem bevorstehenden Ärztetag Ende Mai. Wie kann er behoben werden?

Die Lage ist bereits angespannt. Das ist aber kein Vergleich mit der Situation, die wir in fünf bis acht Jahren erleben werden, wenn die Babyboomer in Rente gehen und wir uns nicht adäquat darauf einstellen. Wir müssen daher jetzt die Zahl der Studienplätze in der Humanmedizin deutlich erhöhen, um diese Entwicklung abzumildern. Außerdem brauchen wir endlich effiziente Strukturen in unserem Gesundheitswesen.

Was muss geändert werden?

Es macht doch zum Beispiel keinen Sinn, wenn Krankenhäuser aus rein wirtschaftlichen Zwängen eine möglichst breite Palette an Leistungen anbieten, obwohl sie vielleicht nicht in allen Bereichen über besondere Expertise verfügen. Sinnvoller wäre, abgestufte Klinikstrukturen und spezialisierte Zentren zu schaffen und dabei auch Klinikstandorte zusammenzulegen. Das mindert den ökonomischen Druck und entlastet vor allem das Personal, das dann tatsächlich Zeit für empathische Kommunikation mit Patienten hat. Wichtig ist: Es geht darum, Personal und Mittel sinnvoll und effizient einzusetzen. Es geht nicht um einen Abbau von Betten.

Gesundheits­minister Lauterbach will die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kommission zur Vorbereitung einer Klinikreform ausschließlich mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen besetzen. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihnen das gar nicht gefällt?

Ja. Das ist ein großer Fehler. An einer derartigen Reform müssen Praktiker mitarbeiten, die Erfahrungen mit dem täglichen Geschehen vor Ort haben. Am Ende müssen doch praktikable Vorschläge herauskommen, schließlich sind auch politische Kompromisse nötig. Das geht am besten, wenn die, die das umsetzen müssen, mit am Tisch sitzen. Mit der reinen Lehre kommt man da nicht weiter. Wenn Minister Lauterbach bei seiner bisherigen Position bleibt, sinken die Chancen für eine erfolgreiche Reform. Das ist fatal, denn bei den allermeisten Beteiligten ist die Erkenntnis da, dass es so nicht mehr weitergeht.

„Kontaktbeschränkungen für Generation 60 plus, damit Kitas und Schulen offen bleiben können“

Die Impfpflicht ist gescheitert. Sollte es einen neuen Anlauf geben?

Ich glaube, es ist richtig, dass man sich hier nicht weiter verkämpft. Es gibt andere wichtige Aufgaben, um sich auf die neue Welle vorzubereiten.

Das wäre?

Es muss alles getan werden, um Kinder und Jugendliche endlich wirkungsvoll vor den Pandemie­auswirkungen zu schützen, Sie waren bisher die Haupt­leidtragenden der Pandemie. Auch das ist übrigens ein Schwerpunktthema auf dem Deutschen Ärztetag. Bildungsdefizite, eine deutlich erhöhte Anzahl psychischer Erkrankungen und Entwicklungs­störungen sind bereits zu beobachten. Aber das gesamte Ausmaß werden wir sicherlich erst mit einer erheblichen Zeitverzögerung erleben, voraussichtlich erst in fünf bis zehn Jahren. Um diese Probleme abzumildern, sind unter anderem mehr Bildungs­förder­maßnahmen nötig als bisher vorgesehen. Es ist ein Skandal, wenn für die Rettung einzelner Unternehmen mehr Geld ausgegeben wird als für den Ausgleich der Bildungs- und Entwicklungs­defizite bei Kindern und Jugendlichen.

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Was meinen Sie konkret mit einem besonderen Schutz der Kinder?

Es muss sichergestellt werden, dass bei einer nächsten Corona-Welle von Anfang an alle Schutzmaßnahmen darauf ausgerichtet werden, die Entwicklungs­chancen von Kindern und Jugendlichen zu sichern. Das heißt dann im Zweifel unter Umständen strengere Kontakt­beschränkungen für die Generation 60 plus, damit Kitas und Schulen offen bleiben können. In den ersten Wellen haben die Jüngeren zurückgesteckt, um die Älteren zu schützen. Künftig muss es umgekehrt sein.

Von Tim Szent-Ivanyi/RND

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