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Die Fallstudie befasst sich mit einem deutsch-öster­reichischen Vorhaben der Jahre 1930/31, eine bilate­rale Zollunion zu gründen. Die Verhandlungen ver­liefen bilateral, bis dritte Parteien intervenierten; eine davon brachte das Zollunion-Projekt schließlich zu Fall. Dieses Ergebnis hatten die beiden Hauptparteien von Anfang an befürchtet, konnten es letztlich aber nicht verhindern.

Nun entstehen Erfolg oder Misserfolg nicht aus sich heraus, sondern sind immer Ergebnis der Ver­handlungen. Unsere Frage lautet daher, ob KI-Ana­lysen den deutschen Diplomaten hätten Hinweise liefern können, mit denen sich die Chance auf einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen erhöht hätte. Die zeitliche Distanz hat dabei einen wohl­tuenden Verfremdungseffekt: Sie verschafft auch Distanz zum Inhalt und erlaubt so einen unvorein­genommenen Blick auf die Probleme, mit denen die Verhandler zu kämpfen hatten.

Der gesamte Verhandlungsprozess ist in seinen wesentlichen Zügen in den Akten zur Deutschen Aus­wärtigen Politik dokumentiert. Bewusst folgt die Dar­stellung diesen – auf die deutschen Akten beschränk­ten – Aufzeichnungen, nimmt damit also die Per­spektive und den Wissensstand eines der beteiligten Akteure zum Ausgangspunkt.

Hintergrund

Der Versailler Vertrag, der im Jahr 1919 den Ersten Weltkrieg rechtlich beendete, beschnitt die Territo­rien Deutschlands und Österreichs erheblich; Öster­reich, der ehemals – nach Russland – zweitgrößte Staat Europas, verfügte nur noch über eine Fläche, die etwa der des heutigen Österreichs entspricht. Das Genfer Protokoll von 1922 verbot zudem explizit einen deutsch-österreichischen Zusammenschluss. Der Völkerbund überwachte die Einhaltung aller Nachkriegsabkommen, einschließlich des Genfer Protokolls. Wirtschaftsangelegenheiten wurden von der durch den Briand-Plan von 1929/30 im Rahmen des Völkerbundes ins Leben gerufenen »Studienkommission für die europäische Union« behandelt.

Deutschland erholte sich zunächst wirtschaftlich rasch vom Krieg, und die Außenpolitik der Weimarer Republik nahm bald revisionistische Züge an. 1925 beschloss das Kabinett die Schaffung eines Landes, das alle beitrittswilligen ethnischen Gruppen um­fassen sollte. Wirtschaftsminister Julius Curtius – später, zum Zeitpunkt der Verhandlungen über das Zollunion-Projekt, Außenminister – betrachtete den Handel mit Österreich als Instrument, um beide Län­der zur politischen Vereinigung hinzuführen.

In Österreich, das den größten Teil des ehemaligen Habsburgerreiches eingebüßt hatte, verschlechterte sich die Wirtschaftslage von 1925 an. Große Teile der österreichischen Wirtschaft kooperierten in der Folge enger mit der deutschen und veranlassten die Regierung in Wien, rechtliche, konsularische und verkehrsrechtliche Bestimmungen den deutschen anzugleichen. 1930 gelangte Bundeskanzler Johann Schober – in einer anderen Koalition im Jahr 1931 Außenminister – zu der Ansicht, dass Österreich wirtschaftlich und finanzpolitisch nur würde über­leben können, sofern es sich mit einem größeren Wirtschaftsraum zusammenschlösse. Er dachte dabei an Deutschland, während andere, insbesondere faschistische, Grup­pierungen im Land einen öster­reichisch-ungarisch-italienischen Block anstrebten.

Ein wichtiges Element der Außenpolitik Frankreichs war das Ziel, jede Stärkung Deutschlands zu verhindern. Frankreich hatte deshalb im Jahr 1924 ein Bündnis mit der Tschechoslowakei geschlossen, das beide Länder verpflichtete, sich gemeinsam gegen Verletzungen der Nachkriegsverträge zu stellen. Im Jahr 1929 stellte Außenminister Aristide Briand dem Völkerbund ein »Memorandum zur Schaffung einer europäischen Union« vor – in den Augen von Teilen der deutschen Öffentlichkeit hätte solch eine Union allerdings die Nachkriegsgrenzen festgeschrieben. Konkret kam es zunächst nur zur Einsetzung der bereits erwähnten Studienkommission für die euro­päische Union.

Die Tschechoslowakei, erst nach dem Weltkrieg als souveräner Staat geschaffen, hing wirtschaftlich von Deutschland und Österreich ab. Eine Vereinigung dieser beiden hätte Prag politisch erheblich geschwächt. So erklärte Außenminister Edvard Beneš im Jahr 1924, ein deutsch-österreichischer Zusammenschluss werde Krieg bedeuten.

Die Verhandlungen

Der Verhandlungsprozess lässt sich in vier Phasen unterteilen. Von Phase zu Phase dringlicher stellte sich die Frage, wie mit dem teils antizipierten, teils für die beiden Protagonisten Deutschland und Öster­reich aber auch überraschenden und vor allem über­raschend wachsenden Widerstand anderer – ent­scheidender – Staaten umzugehen sei. Erschwerend kam dabei in der ersten Hälfte des Jahres 1931 infolge der Weltwirtschaftskrise eine unvorhergesehen dras­tische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Österreichs hinzu.

Phase 1: Deutsch-österreichische Einigung auf das Zollunion-Projekt

Einem Bericht des deutschen Botschafters in Öster­reich an Außenminister (AM) Curtius vom 25. Dezem­ber 1929 zufolge wünschte die österreichische Indus­trie eine deutsch-österreichische Zoll- und Wirtschaftsunion. Eine auf dieses Ziel gerichtete Politik könne als basierend auf »internationalen oder pan-europäischen Prinzipien« dargestellt werden. Darauf erging am 4. Februar 1930 eine Weisung des deutschen Staatssekretärs (StS) Carl von Schubert an den Bot­schafter in Wien, dieser möge der österreichischen Seite mitteilen, dass eine Zollunion ein Fortschritt in den beiderseitigen Beziehungen wäre, die Sieger­mächte sie aber als Verletzung des Vereinigungs­verbots betrachten könnten. Am 23./24. Februar 1930 fanden Konsultationen der beiden Bundeskanzler (BK) in Berlin statt. In einer Aufzeichnung hielt StS von Schubert dazu fest, es sei entschieden worden, eine Zollunion vorzubereiten und dazu vorab die Pro­bleme der (schwachen) österreichischen Textil- und Holzindustrien zu lösen sowie sich auf möglichen Widerstand der Tschechoslowakei vorzubereiten. Der österreichische BK Johann Schober habe gesagt, »dass, wenn wir die Zollunion machten, wir dadurch den ganzen Balkan bekämen«.

In dieser ersten Phase vermuteten beide Seiten, dass es in der Tschechoslowakei und unter den Sieger­mächten Widerstand gegen das Projekt geben könnte. Zudem rechnete man damit, dass nach Errichtung der Zollunion für Teile der österreichischen Wirtschaft Probleme auftreten könnten. Zum Umgang mit diesen Schwierigkeiten teilte das Auswärtige Amt am 4. Juni 1930 den Botschaften in Bern, Brüssel, Buda­pest, Bukarest, London, Paris, Prag und Rom zu den deutsch-österreichischen Konsultationen vom 23./24. Feb­ruar auf BK-Ebene mit, die innere Lage Österreichs verlange gemeinsame Anstrengungen für die wirt­schaftliche Erholung. Eine geschwächte öster­reichische Volkswirtschaft drohe das Land stärker von Frankreich und Italien abhängig machen. Die poli­tische Konstellation in Europa mache gegenwärtig eine politische Vereinigung beider Staaten allerdings unmöglich. Damit wurde die Ausgangslage für die Zoll­union-Verhandlungen bestimmt. Darüber hinaus hielt das AA am 26. Juni 1930 fest, der Entwurf eines deutsch-österreichischen Handelsvertrags enthalte eine Meistbegünstigungsklausel und sehe vor, deut­sche Zölle auf Produkte schwacher österreichischer Industrien zu senken.

Phase 2: Beginn der Verhandlungen

Der deutsche AM hielt am 7. Juli 1930 schriftlich fest, die Vereinigung mit Österreich sei die wichtigste außenpolitische Aufgabe, um den Südwesten Europas im deutschen Interesse zu steuern. Darauf wurden die ersten Verhandlungen aufgenommen. Über diese hielt der deutsche Sonderbeauftragte Karl Ritter am 7. Januar 1931 fest, der österreichische Sonderbeauftragte Richard Schüller werde seiner Regierung die Annahme des deutschen Vertragsentwurfs empfehlen. Er habe auch die Notwendigkeit verstanden, zu belegen, dass keine Seite die Nachkriegsordnung in Europa zu ändern beabsichtige. Am 16. Januar 1931 wies der deutsche AM StS Bernhard von Bülow für dessen Gespräche mit dem österreichischen AM in Genf an, das Projekt sei »vollständig geheim« zu hal­ten, bis die Regierungen für den Gang an die Öffent­lichkeit vorbereitet seien. Die diplomatische Initiative dazu müsse von Österreich ausgehen, um den Ein­druck zu vermeiden, Deutschland bereite die Vereini­gung vor. Am 20. Januar 1931 teilte StS von Bülow dem deutschen Botschafter in den USA mit, die Ab­sicht sei, »das Projekt in ein pan-europäisches Mäntel­chen zu hüllen«. Schließlich unterrichtete der deut­sche AM am 28. Januar und am 28. Februar 1931 – ohne das Zollunion-Projekt zu benennen – das Kabi­nett, er werde im März in Wien »pan-europäische und damit verbundene wirtschaftliche Angelegenheiten« erörtern.

Unterdessen ließ das AA im eigenen Haus die völkerrechtlichen Aspekte des Projektes prüfen und gelangte im Februar 1931 zu dem Schluss, dass die Beteiligung des Völkerbundes sowie des Internatio­nalen Gerichtshofes vermieden werden müsse. Das Projekt solle als ein rein wirtschaftliches betrachtet und nur der Studienkommission für die europäische Union vorgelegt werden.

Phase 3: Man kümmert sich um Frankreich

Am 6. März 1931 berichtete der deutsche Botschafter in Paris, Leopold von Hösch, an den deutschen AM, Deutschland habe sechs Probleme: Österreich, die Reparationen, die Ostgrenze, Abrüstung, die Saar­land­frage, die Kolonien. Keines dieser Probleme könne ohne Frankreich gelöst werden. Der deutsche AM kommentierte dies mit der Anmerkung, Deutschland müsse das Zollunion-Projekt weiterverfolgen, ohne einen Kompromiss mit Frankreich zu suchen, der ohnehin nicht zu erreichen sein werde. Anschließend erging am 9. März 1931 eine »streng geheime« Weisung von StS von Bülow an den deutschen Bot­schafter in Frankreich, mit Österreich sei weitreichen­der Konsens erzielt worden. Auf Nachfrage könne der Botschafter der französischen Seite gegenüber die Vermutung äußern, die deutsch-österreichischen Gespräche befassten sich mit der europäischen Wirt­schaftskrise und mit Bemühungen um eine stärkere Verknüpfung der Volkswirtschaften beider Länder. Dem ließ der StS am 17. März 1931 eine weitere Wei­sung an den deutschen Botschafter in Paris folgen, auf französische Frage nach der Zollunion solle der Botschafter »nicht eine Spur eines schlechten Gewis­sens« zeigen. Es sei unbestreitbares deutsches Recht, zuerst eigene Interessen sowie die Österreichs in Betracht zu ziehen.

Allerdings: Am gleichen Tag berichtete die Wiener Freie Presse über das Projekt der Zollunion. Damit stellte sich nun beiden Seiten vorrangig die Aufgabe, den bereits mit großer Besorgnis erwarteten französischen Widerstand zu neutralisieren. Zu diesem Zweck erging am 18. März 1931 eine Weisung des deutschen AM an die deutschen Botschafter in London, Paris und Rom, diese möchten ihre Gastregierungen ge­meinsam mit dem österreichischen Kollegen über die erzielte Übereinstimmung unterrichten, über den Abschluss einer Zollunion zu verhandeln, die dem Beitritt anderer Staaten offen gegenüberstehen werde.

Phase 4: Das Ende des Zollunion-Projektes

Der Himmel verdüsterte sich allen Bemühungen zum Trotz. So berichtete am 21. März 1931 der deutsche Botschafter in Paris über die weisungsgemäß gemein­sam mit dem österreichischen Botschafter durchgeführte Demarche, der französische AM habe »Betrübt­heit« ausgedrückt. Paris habe keine juristischen Ein­wände gegen Deutschlands Vorgehen, Österreich dagegen verletze das Genfer Protokoll. Frankreich, Großbritannien, Italien und die Tschechoslowakei würden gemeinsam in Wien demarchieren. Am 26. März 1931 folgte die deutsche Botschaft in Paris mit einem Bericht, wonach die französischen Medien ihre Tonlage zum Negativen änderten. Am 29. März 1931 berichtete der deutsche Botschafter in Bern, seit die Angelegenheit auf der Sitzung der Studienkommission für die europäische Union in Paris behandelt worden sei, gewinne die Meinung an Zustimmung, dass eine Zollunion das Genfer Protokoll von 1922 verletzen würde. Und am 4. April 1931 hatte der deut­sche Botschafter in Prag über sein Gespräch mit Präsi­dent Edvard Beneš zu berichten, der tschechoslowa­kische Präsident habe mit »Krieg« oder einem »Zoll­gebührenkrieg« gedroht.

Entscheidend für den weiteren Verlauf der Dinge war jedoch ein unerwartetes, von außen hereinbrechendes Ereignis: die Weltwirtschaftskrise. In deren Folge geriet ab April 1931 das österreichische Banken­wesen in existenzbedrohende Schwierigkeiten. Dar­auf­hin unternahm der deutsche AM noch einen Ret­tungsversuch und schrieb am 16. April 1931 an den Vorsitzenden des Direktorats der Reichsbank, ob es möglich sei, ein umfangreiches Konto bei der gefähr­deten Österreichischen Kreditbank einzurichten. Dies war – wiewohl hierzu keine Dokumente vorliegen – offenkundig nicht möglich. Frankreich erkannte die Lage jedoch genau: Am 17. Juni 1931 berichtete der deutsche Botschafter in Paris seinem AM, AM Briand habe mehrere Male nachgefragt, ob er nicht zu erklä­ren wünsche, dass Deutschland seine Zollunion-Pläne nicht weiterverfolgen werde, um es Frankreich da­durch zu ermöglichen, den österreichischen Wunsch nach einem französischen Kredit zu erfüllen. Die Bot­schaft in Paris berichtete am selben Tag, am 16. März sei der österreichische Botschafter in Frankreich vom französischen AM unterrichtet worden, französische Banken seien nur dann in der Lage, österreichischen Banken zu helfen, wenn die österreichische Regierung förmlich erkläre, von jeglicher Initiative zur Ver­änderung des internationalen Status Österreichs abzulassen. Damit blieb nur noch ein Weg: Am 3. Sep­tember 1931 gaben die deutschen und österreichischen Außenminister beim Europaausschuss in Genf eine Erklärung ab, dass ihre Länder das Projekt einer Zoll­union nicht weiterzuverfolgen beabsichtigten.

Die Problematik

In jeder der dargelegten vier Verhandlungsphasen stellt sich die Frage, ob die von den deutschen und österreichischen Verhandlungspartnern gewählte »Lösung« mithilfe des Einsatzes von KI anders und/oder besser hätte ausfallen können.

Analysiert man den Ablauf anhand des »Rasters für die Beurteilung der Erfolgsaussichten von Verhandlungen« im gleichnamigen Abschnitt (oben, S. 8), zeigt sich zunächst hinsichtlich der Machtressourcen, dass beide Hauptakteure Deutschland als die stär­kere Seite betrachteten. Deutschland nahm schritt­weise das Heft in die Hand, und Österreich zog auf dem Weg mit, der letztlich zur auch politischen Ver­einigung führen sollte. Bald jedoch wurde ein Macht­gefälle deutlich, mit Deutschland/Österreich auf der einen – schwächeren – Seite und den alliierten Mächten (die bis zum 30. Juni 1930 noch links- und rechtsrheinische Gebiete besetzt gehalten hatten) auf der anderen. Die zentrale Rolle nahm dabei Frankreich ein, das zudem auf die Unterstützung inter­nationaler Institutionen zählen konnte. Selbst die militärisch schwache Tschechoslowakei besaß durch ihr Bündnis mit Frankreich und Frankreichs Inter­essenlage durchaus erheblichen Einfluss und damit eigene Machtressourcen. Das Tableau der Macht­ressourcen änderte sich mit der Weltwirtschaftskrise nochmals entscheidend: Nun besaßen weder Deutsch­land noch Österreich die Mittel, um der wirtschaft­lichen Notlage ohne Hilfe von außen zu entkommen. Diese Lage erkannte Frankreich rasch – am Ende blieb den beiden Initiatoren des Zollunion-Projekts nur die Kapitulation.

Blicken wir auf die Strategie der beiden Initiatoren, so stimmten sie offenkundig darin überein, sich zunächst der einfacheren Probleme anzunehmen: des Ausgleichs der wirtschaftlichen Schwäche Österreichs und der mäßigenden Einwirkung auf die öffentliche Meinung in beiden Ländern. Differenziertere Über­legungen zum Umgang mit dem befürchteten Wider­stand dritter Staaten und zu seinen nächsten Zügen entwickelte Deutschland erst, nachdem die Verhandlungen auf gutem Weg waren. Dazu sollte das Projekt seiner weiterreichenden politischen Zielrichtung gänzlich entkleidet und daher nur dem für Wirtschaftsfragen zuständigen internationalen Gremium in Genf vorgelegt werden. Dabei hielten beide Ver­handlungspartner eine offensive Strategie für sinn­voll, um durch Bestehen auf dem Recht zur Errichtung einer rein wirtschaftlich orientierten Union auch in den internationalen Gremien ihre Pläne (die längerfristig sehr wohl über die Zollunion hinausreichten) selbst gegen Frankreich durchzusetzen. Am Ende blieb als »Strategie« nur, angesichts der diplo­matischen Niederlage gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Vielleicht ließe sich durch genauere Kenntnis der Persönlichkeit der Verhandler noch Näheres zu ihren taktischen Abwägungen erfahren, das uns Auf­schluss hinsichtlich eines möglichen Ansatzes für die Nutzung von KI-Instrumenten geben könnte. Den AA-Dokumenten ist hierzu – ihrem Charakter gemäß – jedoch nichts zu entnehmen; dazu müssten andere Quellen herangezogen werden.

KI als Antwort?

Um den Verlauf zusammenzufassen: Zunächst kon­zentrierten sich Deutschland und Österreich darauf, die Sachfragen zu klären. Im Binnenverhältnis der zwei Akteure erscheint dies als rational und durchdacht. Im Nachhinein ist allerdings offenkundig, dass das Problem des Widerstands anderer Parteien frühe­rer Maßnahmen bedurft hätte. Im weiteren Verlauf zeigt sich zwar in der bewussten Täuschungsabsicht der deutschen Verhandlungsseite gegenüber den internationalen Partnern und selbst gegenüber Teilen des eigenen Kabinetts ein Bewusstsein für mögliche Widerstände. Dennoch fehlt es aus heutiger Sicht an einer Matrix zum differenzierten Umgang mit den verschiedenen Parteien und an entsprechend an­gelegten diplomatischen Maßnahmen. In den letzten Phasen der Verhandlungen lässt Deutschlands Stra­tegie nicht erkennen, wie das Zollunion-Projekt gegen Frankreichs Widerstand zum Erfolg hätte geführt werden können. Im Scheitern des Projekts zeigt sich damit, dass Deutschland und Österreich nicht die Machtmittel zur Verfügung standen, welche die Durchsetzung der eigenen Interessen gegen ernst­haften Widerstand erlaubt hätten.

Es wäre nun im Nachhinein zu prüfen, ob eine andere Strategie aussichtsreicher hätte verfolgt werden können. Das heißt: Hätte es Wege gegeben, prophylaktisch mit dem zu erwartenden Widerstand in einer Weise umzugehen, die dem Projekt auch zum Erfolg hätte verhelfen können, als die Machtgewichte sich verschoben? Und: Hätten KI-Instrumente helfen kön­nen, solch eine Strategie zu entwickeln?

Die Fallstudie enthüllt, wie vielfältig die Faktoren sind, die den Verlauf selbst von scheinbar überschaubaren Verhandlungen beeinflussen. Im Nachhinein, und mit umfangreichem Einblick in die entsprechenden Dokumente, lassen sich diese verschiedenen Fak­toren analysieren, und aus ihrem Zusammenspiel lässt sich die Dynamik der Verhandlungen erklären.

Nach heutigem Stand aber ist schwer vorstellbar, dass KI-Systeme konkrete strategische Empfehlungen für einen solchen Verhandlungsfall entwickeln. Es scheint jedoch ein »bescheidenerer« Weg gangbar zu sein, nämlich der, KI-Systeme zur automatisierten Entwicklung von Szenarien zu nutzen, die wiederum Hinweise für die strategischen Überlegungen der Ver­handler geben können.

Das Denken in Szenarien ist für Verhandler nicht neu. Tatsächlich findet sich auch in diesem Fall ein entsprechendes Beispiel. Eine Vorlage des Politischen Abteilungsleiters Gerhard Köpke für den Besuch von AM Curtius in Wien am 23. Februar 1931 enthält eine umfassende und vorausschauende Analyse mit dem Ergebnis, dass eine Anpassung der verfolgten Stra­tegie notwendig sei. Als zentral wird hier – im Rück­blick zutreffend – der Widerstand der Tschecho­slowakei und ihres Bündnispartners Frankreich be­schrieben. Das französische und tschechoslowakische Misstrauen ließe sich, so der Vorschlag Köpkes, »viel­leicht« (sic!) beheben, wenn Deutschland »zweifelsfrei seine Bereitschaft« erklärte, »Frankreich und die Tsche­choslowakei in den Wirtschaftsblock als gleich­berechtigte Partner aufzunehmen und dadurch unter Verzicht auf machtpolitische Tendenzen den Frieden Mitteleuropas endgültig zu sichern«. Da sich andere Versuche, die Wirtschaftslage Europas zu verbessern, als nicht durchführbar erwiesen hätten, würde dies »dem Widerstand unserer Gegner (sic!) zum mindesten jede moralische Basis nehmen«. Warum diese Anregungen Köpkes nicht aufgegriffen wurden, ist (von uns) nicht festzustellen. Das Papier zeigt aber, welchen Wert es haben kann, in zugespitzten Situa­tionen out of the box zu denken.

Die Frage ist mithin, ob es hierfür erfahrener Diplo­maten bedarf – oder aber, ob sich zumindest in Teilen KI-Systeme zu diesem Zweck einsetzen lassen. Einen Ansatzpunkt bieten jene KI-Systeme, die gigan­tische Mengen menschlichen Wissens durchsuchbar machen. Eines der ambitioniertesten Projekte dieser Art ist der bereits erwähnte Generative Pretrained Transformer von OpenAI. Ein vergleichbares Produkt bietet IBM mit Watson, einem System, das öffentlichkeitswirksam schon 2011 beim Quiz-Spiel »Jeopardy« gegen Menschen angetreten ist. In Deutschland arbei­tet die Firma Aleph-Alpha am Aufbau eines ähn­lichen Systems.

Die Grundlage für diese Systeme sind Datenbanken aus riesigen Mengen von Texten. Es ist wahrscheinlich nur eine geringfügige Übertreibung, wenn die Entwickler dieser Systeme behaupten, das (verschriftlichte) »Wissen der Welt« zu verarbeiten. In einem ersten Schritt werden diese gigantischen Daten­mengen auf semantische Muster durchsucht. Die Sys­teme »lernen« so etwa, dass bestimmte Informationen zum selben Themenkomplex gehören, dass bestimmte Worte Personen benennen, andere Orte – oder aber, dass bestimmte Verwendungen von Worten und Redewendungen oft miteinander verbunden werden. Im zweiten Schritt ist es dann möglich, diese Daten­bank zu befragen, letztlich nicht unähnlich wie eine klassische Internetsuchmaschine. Die Aufbereitung der Daten entlang semantischer Muster erlaubt dabei allerdings sehr viel umfangreichere Antworten: So gibt es etwa Berichte darüber, wie GPT ausgehend von einem Satz ein ganzes Buch »geschrieben« hat. Die Informationen des Ausgangssatzes geben dabei den Startpunkt vor; je nachdem, wie präzise die darin enthaltenen Hinweise sind, orientiert sich der Text von GPT dabei mehr oder weniger eng an diesem Ausgangspunkt.

Solche Systeme lassen sich auch nutzen, um Szena­rien für zukünftige Entwicklungen zu entwickeln. Denkbar wäre etwa, das System zusätzlich zu dem allgemeinen Wissensbestand mit spezifischen Infor­mationen zu »füttern«, also etwa Zeitungsberichten zum Thema oder Entwürfen von Verhandlungs­texten. Mittels Kombination des allgemeinen Wissens­bestandes mit diesen spezifischen Informationen könnte das System automatisiert und quasi auf Knopfdruck eine Reihe von Szenarien entwickeln.

Etablierte gedankliche Kategorien durchbrechen.

Der Anspruch wäre dabei nicht, die wahrschein­liche Entwicklung zu prognostizieren. Das Ziel lautete vielmehr, ein Spektrum möglicher Entwicklungen aufzuzeigen und mithilfe der automatisiert generierten Szenarien etablierte gedankliche Kategorien zu durchbrechen. Die Beurteilung der Szenarien müsste dabei weiterhin von Menschen vorgenommen wer­den. Einige Szenarien oder Aspekte von Szenarien wären aus Sicht erfahrener Diplomaten wahrscheinlich schlicht unplausibel, andere politisch nicht erstre­benswert.

Um einen Eindruck von der praktischen Funk­tionsweise eines solchen Systems in einem Fall wie dem unseren zu gewinnen, haben wir die Firma Aleph-Alpha gebeten, mithilfe ihres KI-Systems Sze­narien zu der zentralen Frage von Fallstudie 1 zu ent­wickeln. Der Input für das System bestand dabei in folgender knapper Zusammenfassung der oben ge­nannten Weisung Staatssekretärs von Bülow an den deutschen Botschafter in Frankreich vom 17. März 1931 durch Aleph-Alpha: »Sollte die französische Seite Sie auf die Zollunion ansprechen oder sollten die Medien das Thema aufgreifen, zeigen Sie ›nicht eine Spur eines schlechten Gewissens‹. Was wir unternehmen, stimmt mit der pan-europäischen Idee überein. Es ist unser unbestreitbares Recht, zuerst unsere eige­nen Interessen sowie die Österreichs in Betracht zu zie­hen. Artikel 80 des Vertrags von Versailles ist unmoralisch, weil er Österreich das Recht auf Selbst­bestimmung nimmt.«

Ausgehend allein von diesem Textstück präsentierte uns Aleph-Alpha fünf automatisch generierte Kurz-Szenarien in Form von möglichen Fortführungen der von Bülowschen Weisung. Einige der so entstandenen Hinweise waren offenkundig wenig hilfreich, etwa der, man solle den Eindruck vermeiden, Deutschland wolle Österreich aus der Zollunion ausschließen. Durch­aus interessant ist aber der Hinweis, Deutschland solle sich um eine Einbindung der Tschecho­slowakei bemühen – bedenkenswert insbesondere deshalb, weil diese Überlegung den Akten des Aus­wärtigen Amtes zufolge bei den tatsächlichen stra­tegischen Überlegungen keine größere Rolle gespielt hat. Hätte ein KI-System solche Szenarien im Jahr 1930 vorgelegt, wäre es die Aufgabe der Diplomaten gewesen, unter diesen verschiedenen »Vorschlägen« diejenigen Hinweise auszumachen, die sie in ihren Überlegungen bis dorthin übersehen hatten.

Ein einzelnes Beispiel wie dieses erlaubt keine generelle Aussage über die Leistungsfähigkeit von KI‑Systemen im Kontext bilateraler Beziehungen. Erschwerend kommt hinzu, dass es bei kommerziellen Dienstleistungen wie der von Aleph-Alpha unter normalen Umständen keine Möglichkeit gibt, die Funktionsweise der Systeme im Detail zu prüfen – also auf Ebene der Algorithmen, Modelle und konkre­ten Datenbasis.

Dennoch bekräftigt unser kleines exploratives Experiment die allgemeinen Überlegungen zur Leis­tungsfähigkeit dieser Art von KI-Systemen. Ihre Stärke liegt darin, semantische Muster aufzudecken und dabei die vielen impliziten Vorannahmen außen vor zu lassen, die jede und jeder von uns mit sich trägt. Diese »unvoreingenommene« Herangehensweise ist zugleich aber auch die Schwäche dieser Systeme, weil ihnen zumindest zum jetzigen Stand oft noch das nötige Kontextwissen fehlt. Die Folge sind Vorschläge, die für uns als menschliche Beobachter offensichtlich widersinnig sind.

Die Entwicklung von Szenarien mithilfe von KI-Systemen kann auf Knopfdruck erfolgen.

Können solche Systeme zur KI-basierten Erstellung von Szenarien einen Mehrwert für diplomatische Ver­handlungen bieten? Mit Blick auf unsere Leitfrage neigen wir zu einer positiven Antwort. Die Entwicklung von Szenarien mithilfe von KI-Systemen kann auf Knopfdruck erfolgen und ist damit deutlich schneller und günstiger als ein aufwändiger, grup­pen­basierter Prozess des strategic foresight. Ob die Güte der so entwickelten Szenarien ausreicht, um einen strategischen Vorteil zu generieren, lässt sich aktuell noch schwer beurteilen. Ein klarer Vorzug besteht wie beschrieben darin, dass diese Systeme mit weniger Vorannahmen an Themen herangehen, als Menschen dies tun, wodurch sich die Chance auf Anregungen out of the box erhöht. Die entscheidende Frage ist wohl, ob es gelingen kann, ein solches Sys­tem noch präziser als bisher auf die spezifischen Be­dürfnisse diplomatischer Verhandlungen auszurich­ten, um so die Anzahl widersinniger Vorschläge zu reduzieren und stattdessen den Anteil relevanter Hinweise auszubauen. Dies lohnt es systematisch zu prüfen.

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