Besondere Zeiten erfordern besondere Projekte: Sowohl im Heft als auch digital arbeitet die stern-Redaktion zum Weltklimatag mit Fridays for Future zusammen. Ein Einblick in die gemeinsame Arbeit.Es war genau vor einem Jahr: Eine Schülerin se­gelte über den Ozean, um bei den Vereinten Nationen in New York die ältere Generation anzuklagen. „How dare you!“ Nie zuvor rückten Klimaaktivisten so stark ins Zentrum der öffentlichen Beachtung. Nie war sich die Menschheit ihrer existenziellen Bedrohung so bewusst und der unverhandelbar kurzen Zeit, die zur Abwendung der Katas­trophe nur noch bleibt. Und nie war die Bereitschaft zu grundlegenden Veränderungen größer. Viele gelobten Besserung und nahmen sich vor, der Ein­haltung des 1,5-Grad-Zieles von nun an die höchste Priorität einzuräumen. Auch der stern.Was ist aus all den guten Vorsätzen geworden? Wenige Monate nach Greta Thunbergs Auftritt in New York kam ein Virus in die Welt und zieht seitdem fast die gesamte Aufmerksamkeit der Politik, der Medien und der Gesellschaft auf sich. Auch die des stern.Doch die Klimakatastrophe wartet nicht, bis die anderen Probleme gelöst sind. Darum hat sich die stern-Redaktion entschieden, der zentralen Überlebensfrage unserer Zeit den angemessenen, also den größtmöglichen Raum zu geben, mit einem monothematischen Heft, das unmittelbar vor dem globalen Klimastreik am 25.9. erscheint. Zusätzlich wird sich auch das digitale Angebot auf stern.de einen Tag lang vollständig auf die Berichterstattung über den Klimastreik und die Ursachen der Aufheizung des Planeten konzentrieren. „Wir wollen ein Zeichen setzen, dass die Klimakrise wieder nach ganz oben auf die Liste der globalen Prioritäten und damit auch der medialen Berichterstattung gehört“, sagt Anna-Beeke Gretemeier, Co-Chefredakteurin des stern.Schon in der Vergangenheit hat der stern immer wieder Ausgaben einem einzigen Thema gewidmet, doch diesmal gibt es einen bedeutenden Unterschied: Dieser stern ist in Zusammenarbeit mit Aktivisten von Fridays for Future entstanden. Zum ersten Mal in 72 Jahren konnten also Menschen direkten Einfluss auf die Gestaltung des Magazins nehmen, die nicht zur Re­daktion gehören.Diskussionen in der RedaktionEs ist ein Experiment. Die Versuchsanordnung wurde nur für dieses eine Projekt zusammengestellt: Eine Woche lang waren Vertreter von Fridays for Future (FFF) in allen Redaktionskonferenzen dabei und haben sich aktiv in die Themenauswahl eingemischt. Zusätzlich konnten „Themenpaten“ von FFF schon bei der Recherche und beim Verfassen der Artikel mit den Autorinnen aus der Redaktion diskutieren. „Wir wollten uns dem aussetzen und uns von jungen Aktivisten in unserer Arbeit infrage stellen lassen“, sagt Florian Gless, der zusammen mit Gretemeier die stern-Redaktion leitet.„Uns kann nicht egal sein, was um uns herum passiert“: stern-Chefredakteurin Anna-Beeke Gretemeier und stern-Chefredakteur Florian GlessDie letzte Entscheidung, welches Thema in welcher Form im Heft, online oder gar nicht veröffentlicht wird, lag jedoch stets bei der Redaktion.Als die Chefredakteurin und der Chefredakteur der Redaktion die Idee zur Zusammenarbeit mit den Aktivisten von FFF vorstellten, gab es spontan jede Menge Zustimmung, von „großartig“ bis „super Idee zur richtigen Zeit“. Aber einige der Redakteure und Reporte­r­innen äußerten auch prinzipielle Probleme mit einer solchen Kooperation.Streit ist in einer Redaktion wie der des stern nichts Ungewöhnliches. In der offenen Redeschlacht ent­stehen mitunter die besten Ideen für Artikel. An der Streit­kultur erkennt man den Zustand einer Redaktion. Manchmal können sich nach einer Auseinandersetzung alle auf eine gemeinsame Position einigen. Aber nicht immer.Weil dieses Heft anders ist als alle zuvor, will der stern in diesem Artikel nicht nur die Form der ungewöhn­lichen Zusammenarbeit mit FFF für die Leser trans­parent machen, sondern auch die Bedenken, die einige Kollegen dagegen haben. „Für mich ist das ein Tabubruch“, sagt Kerstin Herrnkind, Reporterin im Ressort Gesellschaft. „Wir sollten niemanden von außen in unsere Redaktion holen, auch nicht die Aktivisten von FFF.“ Dabei unterstützen auch die Kritiker der Zusammenarbeit das Vorhaben, den Klimaschutz künftig stärker ins Zentrum der Berichterstattung zu rücken. Persönlich haben sie durchaus Sympathie für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen von Fridays for Future und teilen ausdrücklich deren Ziele. „Mir geht es nicht um FFF, sondern ums Prinzip“, sagt der Wirtschaftsreporter Johannes Röhrig. „Der stern sollte mit überhaupt keiner Aktivistengruppe zusammenarbeiten, grundsätzlich nicht. Man kann sich auch mal mit einer Sache gemein machen. Mit einer Bewegung aber nicht.“Eine eindeutige PositionierungRöhrig ist einer der Sprecher des Redaktionsbeirats. Das ist die publizistische Vertretung der Redaktion gegenüber der Chefredaktion und dem Verlag. Der stern ist eine der wenigen Redaktionen mit einer solchen demokratisch gewählten Repräsentanz seiner Journalisten. Auch im Redaktionsbeirat gab es Vorbehalte gegen das Experiment.Die Diskussionen beim stern zeigen, wie heilig dieser Redaktion ihre journalistische Unabhängigkeit ist, wie empfindlich sie auch auf die kleinste Einmischung in die inneren Angelegenheiten reagiert.„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.“ So lautet ein berühmtes Zitat des ehemaligen „Tagesthemen“-Moderators Hanns Joachim Friedrichs, das jedem Journalisten in seiner Ausbildung begegnet. Gegen diesen Grundsatz hat der stern in dieser Ausgabe verstoßen. Was die Klimakrise angeht, ist der stern nicht neutral. In dieser Frage positioniert sich das Blatt eindeutig, ähnlich wie bei der Ablehnung des Rechtsextremismus. In der gesamten Redaktion gibt es niemanden, dem die existenzielle Bedrohung des Lebens durch die Klimakrise nicht bewusst ist. Diese einstimmige Haltung öffentlich zu machen gehört zur Aufrichtigkeit gegenüber den Lesern dazu.Austausch am Monitor: FFF-Aktivistin Luisa Neubauer (u.) bespricht sich mit Chefredakteurin Anna-Beeke Gretemeier online© Max Arens / stern„Es kann uns nicht egal sein, was um uns herum passiert“, sagt Anna-Beeke Gretemeier. Und Florian Gless ergänzt: „Wir bekennen uns zu einem Journalismus, der sich stärker einmischt.“ Engagement gehört zum Erbgut des stern. Das Magazin hat „Jugend forscht“ gegründet, sich gegen den § 218 engagiert oder für die Tsu­-nami-Opfer gesammelt und mit „Mut gegen rechte Gewalt“ und „Exit“ zwei wichtige Organisationen auf den Weg gebracht, die Neonazis bekämpfen. Den Klimaschutz mit allen publizistischen Mitteln zu unterstützen, gehört von nun an mit auf diese Liste.Das große GanzeDer stern hat sich Fridays for Future als Partner ausgesucht, weil die jungen Frauen und Männer von den Folgen der globalen Erhitzung am stärksten betroffen sein werden. Zudem ist es FFF wie keiner anderen Organisation gelungen, ein allgemeines Bewusstsein für die Dringlichkeit des Klimaschutzes zu schaffen. „FFF und der stern passen gut zusammen, denn uns verbindet der unbedingte Respekt vor der wissenschaftlichen Erkenntnis“, sagt Christoph Koch, Co-Leiter des Wissenschaftsressorts. Es gibt noch einen weiteren Grund für den stern, den direkten Kontakt mit FFF zu suchen: Aus Sicht der Klimaaktivisten gehören die Medien zu den bedeutenden Bremsern, wenn es um die Durchsetzung eines effektiven Kli­maschutzes geht. Kritik an den Medien ist Teil der strategischen Arbeit von FFF.„Kann ich dazu was sagen?“, fragt Eva Städele, eine 18-jährige aus Ravensburg, die im Sommer Abitur gemacht hat, ein wenig schüchtern dazwischen. Es ist die erste gemeinsame Planungskonferenz, und wie alle stern-Konferenzen seit März eine rein digitale Zusammenkunft. Das macht die Einmischung für Außen­seiter noch schwieriger. Doch Städele verschafft sich Gehör: „Wenn man sich zu viel mit den kleinen Sachen beschäftigt, verliert man die großen, wichtigen Fragen aus den Augen.“ In allen Besprechungen mit FFF wird diese Kritik zu einem zentralen Thema: Die Medien vergeuden die begrenzte Aufmerksamkeit ihres Publikums mit Nebensächlichkeiten. Plastiktüten vermeiden, weniger Fleisch essen und auf Flüssigseife verzichten – alles richtig. Aber nicht entscheidend. Wer tatsächlich etwas bewirken will, soll sich nicht mit der Verteufelung des individuellen Konsums ablenken, wie es Umweltaktivisten vor FFF lange getan haben. Für FFF aber zählt der große Hebel, zählen die politische Entscheidungen: Kohleausstieg, das Ende des Verbrennungsmotors, eine drastische Besteuerung von CO sowie verbindliche internationale Abkommen. Die FFFler, wie sie sich selbst nennen, wenden sich nicht an den Konsumenten, sondern an den Staatsbürger.Generationen-Treffen: Reporter Jan Rosenkranz (M.) mit der FFF-Aktivistin Eva Städele (l.), der Extinction Rebellion-Aktivistin Annemarie Botzki und dem ehemaligen Greenpeace-Chef Thilo Bode (r.)© Max Arens / stern„Vielen Menschen ist es aber unheimlich wichtig, wenn sie im Kleinen selbst etwas machen können“, wendet Stefanie Hellge ein, die Blattmacherin für diese Ausgabe. Sie sieht sich als Anwältin der Leser. Gebe man denen das Gefühl, der Einzelne könne ohnehin nichts bewirken, wendeten sie sich frustriert ab, so befürchtet Hellge. Doch die Kritik der FFFler beeindruckt auch sie. Dem Artikel über die kleinen Dinge, die jeder in seinem Alltag tun kann, hat sie darum weniger Platz im Heft eingeräumt, als ursprünglich geplant.Falsche AusgewogenheitNick Heubeck, 22 und Student der Politikwissenschaft in Bamberg, formuliert einen ebenso prinzipiellen Kritikpunkt am Umgang von Journalisten mit der Klimakatastrophe: „Die Redaktionen wollen nicht zu alarmistisch sein, weil die Leserinnen und Leser das angeblich nicht mögen. Dadurch wird die Bedrohung aber längst nicht so ernst dargestellt, wie sie tatsächlich ist.“ Blattmacherin Hellge sieht ihre Aufgabe hingegen darin, das Heft so zu komponieren, dass auch leichte und positive Stücke darin Platz finden: „Wir können nicht nur das Grauen abbilden. Dann legen die Leser das Heft schnell wieder weg.“ Chefredakteur Gless findet: „Dass die FFFler uns schon im Entstehungsprozess des Blattes und nicht erst hinterher kritisieren konnten, hat uns enorm befruchtet.“In einem wichtigen Punkt ihrer Medienkritik ist die stern-Redaktion eine Verbündete von Fridays for Future: „In den Medien kommen Leugner der Klimakrise auch heute noch zu Wort, obwohl seit Jahrzehnten wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass sie Unrecht haben“, sagt Nick Heubeck. „False Balance“, falsche Ausgewogenheit, nennen Medienwissenschaftler das inzwischen gut untersuchte Phänomen der verzerrten Darstellung. Aus Proporzdenken oder im Bemühen, alle Ansichten zu Wort kommen zu lassen, wird Mindermeinungen zu viel Raum in der Berichterstattung eingeräumt. Behauptungen von sektiererischen Abweichlern stehen gleichberechtigt neben den Erkenntnissen einer überwältigenden Mehrheit von Wissenschaftlern der jeweiligen Disziplin. Amerikanische Studien zeigen, dass bei Mediennutzern durch „false Balance“ der Eindruck entstanden ist, in der Wissenschaft seien der menschen­gemachte Klimawandel und seine katastrophalen Auswirkungen noch immer umstritten. Doch das sind sie nicht. Ressortleiter Christoph Koch unterstützt Fridays for Future in dieser Frage: „Wir kommen den Leugnern und Verharmlosern der Klimakrise keinen Millimeter entgegen.“Über die Deiche: FFF-Aktivistin Leonie Bremer und Redakteur Gunnar Herbst erkundeten das Alte Land in Niedersachsen klimafreundlich mit dem Rad© Max Arens / sternWenn ein eingespieltes Magazinteam, dessen Mitglieder teilweise seit Jahrzehnten zusammenarbeiten, eine Kooperation mit einem guten Dutzend junger Aktivisten eingeht, kann es kein echtes Gleichgewicht zwischen den Partnern geben. Trotzdem findet Eva Städele: „Das Team vom stern hat sich Mühe gegeben, zu verstehen, in welche Richtung wir das Heft gestalten wollen.“ Regelmäßig erlebten die stern-Reporterinnen ihre Co-Pilotinnen von FFF staunend wegen des immensen Rechercheaufwandes, den die Artikel erfordern, und der Sorgfalt, mit der vor der Veröffentlichung noch mal alles überprüft wird. „Die Dokumentation, also das System, mit dem ihr die Fakten checkt, ist in Anbetracht der ständigen Eile schon echt aufwendig“, sagt Line Niedeggen, 23 und Physikstudentin mit Schwerpunkt Klimaphysik. „Wissenschaftler*innen haben offenbar Schwierigkeiten, die Dramatik der Erkenntnisse klar zu formulieren. Da ist es spannend zu sehen, wie ihr versucht, wissenschaftlich korrekt und doch für alle verständlich zu schreiben.“Begegnung von GenerationenDie Zusammenarbeit von FFF und dem stern war nicht nur eine Begegnung von Journalisten und Aktivisten, sondern auch eine der Generationen. Viele Mitglieder der Redaktion haben Kinder im Alter der Klimaschützer, die freitags auch hin und wieder demonstrieren. „Die Jugendlichen, mit denen wir hier zusammengearbeitet haben, die sind für ihr Alter schon sehr weit“, sagt Doris Schneyink, neben Koch Leiterin des Wissenschaftsressorts. „Mich hat eine 14-Jährige angerufen, die für Klausuren lernen musste und sich die Zeit nahm, eine Überschrift zu kritisieren. Das fand ich großartig, denn sie hatte außerdem noch recht mit ihrer Kritik.“Die nächsten Hefte werden wieder von den routinierten Babyboomern der stern-Redaktion allein gestaltet. Es werden Ausgaben sein, mit der gewohnt breiten Palette an Themen. Dennoch bleibt die Klimakrise auch in Zukunft weiter oben auf der Prioritätenliste. Der Blick hinter die Kulissen und die internen Diskussionen in der Redaktion werden hingegen vorerst kein Inhalt der Berichterstattung mehr sein. Versprochen.Danksagung

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