Reaktorunfall und Nuklearangriff
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Wann schützen Jodtabletten vor radioaktiver Strahlung?

Seit Wladimir Putin die Nuklearstreitkräfte seines Landes in Alarmbereitschaft versetzt hat, steigt bei manchen Menschen die Sorge vor einem möglichen Atomkrieg. Viele diskutieren in den sozialen Medien über Schutzmaßnahmen – wie die Einnahme von Jodtabletten. Aber sind diese Pillen überhaupt sinnvoll?

Jodtabletten gegen radioaktive Strahlung – diese Schutzmaßnahme haben viele Menschen im äußeren Westen des Rheinlands noch gut in Erinnerung. Im Jahr 2017 gaben die Behörden in der Städteregion Aachen und in den Kreisen Düren, Euskirchen und Heinsberg Jodtabletten an die Bevölkerung unter 45 Jahren aus: zum Schutz im Falle eines Reaktorunglücks im belgischen Meiler Tihange.

Nun aber beschäftigen sich nicht mehr nur Menschen in der Nähe von Atomreaktoren mit Jodtabletten. Angesichts der Anordnung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Abschreckungskräfte seines Landes in Alarmbereitschaft zu versetzen, steigt der Deutschen Apotheker Zeitung zufolge in polnischen Apotheken bereits die Nachfrage nach Jodtabletten und -lösungen.

Auch in den sozialen Medien wird die mögliche Schutzwirkung von Jodtabletten im Fall eines Atomkriegs diskutiert – auch wenn politische Beobachter Putins Befehl eher als Drohgebärde einstufen. Doch selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eines Atomschlags einträte – Jodtabletten würden wohl nicht viel bewirken, sagen Mediziner.

„Nach einem Reaktorunfall ist es innerhalb eines gewissen Zeitfensters sinnvoll, Jodtabletten zu nehmen“, erklärt Joachim Feldkamp, Chefarzt der Klinik für Endokrinologie im Klinikum  Bielefeld. Aber: „Wir haben es bei einem Reaktorunfall und einem Nuklearangriff mit zwei verschiedenen Dingen zu tun.“

Zunächst der Blick auf die Situation nach einem Reaktorunfall: Mit Blick auf dieses Szenario wurden vor fünf Jahren an die jüngere Bevölkerung rund um das AKW Tihange hoch dosierte Kaliumiodid-Tabletten ausgegeben. „Bei solchen Unfällen kommt es zur Freisetzung von radioaktivem Jod 131“, sagt Wolfgang Schäfer, Chefarzt der Klinik für Nuklearmedizin in den Kliniken Maria Hilf in Mönchengladbach. Durch die Aufnahme dieses radioaktiven Jods kann es später zu Schilddrüsenkrebs kommen. Davon sind laut dem Experten vorrangig Kinder und Jugendliche sowie auch Schwangere und Stillende betroffen.

Darum versucht man, die Aufnahme des radioaktiven Jods durch eine sogenannte Jodblockade zu verhindern. Dazu empfiehlt die Strahlenkommission die Aufnahme einer hohen Dosis stabilen Jods in einer Größenordnung des 100- bis 1000-fachen der Menge, die täglich mit der Nahrung aufgenommen wird. „Die Schilddrüse ist damit voll und nimmt das radioaktive Jod in diesem Fall nicht mehr auf“, sagt Schäfer. Voraussetzung allerdings: das Medikament wird innerhalb eines engen Zeitfensters vor und nach einem Reaktorunfall eingenommen. Der Zeitpunkt spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn der Körper scheidet das Jod mit der Zeit wieder aus, es erfüllt dann also seine schützende Funktion nicht mehr.

Ab einem Alter von 45 Jahren verzichtet man auf die Gabe einer solchen Jodblockade. Der Grund: „Menschen jenseits der 45 haben häufig latente Schilddrüsenerkrankungen, bei denen eine hohe Gabe von Jod zu schweren Überfunktionen führen kann“, sagt Feldkamp. Ein 45-Jähriger hätte darum einen geringen Nutzen von einer Einnahme. „In diesem Alter ist das Risiko einer sogenannten Schilddrüsenautonomie höher, bei der Patienten durch die Überfunktion Herzrasen bekommen und im schlimmsten Fall an einem Herztod sterben würden“, sagt Schäfer.

Ein nuklearer Angriff hingegen wäre medizinisch gesehen eine vollkommen andere Situation. Zwar könnten Jodtabletten auch hier theoretisch vor Schilddrüsenkrebs schützen. Doch Atomwaffen enthalten nicht nur radioaktives Jod, sondern auch andere radioaktive Elemente wie Cäsium, Plutonium oder Strontium. „Vor den Folgen des Kontakts mit diesen hochgiftigen Stoffen – wie Strahlungsschäden oder später auftretenden Krebserkrankungen und Leukämie – schützt die Einnahme von Jodtabletten nicht“, betont Feldkamp.

„Die Bedrohung durch Russland und die gesundheitlichen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes sind so katastrophal und medizinisch nicht beherrschbar, dass es nicht um den Schutz der Schilddrüse geht“, sagt Lars Pohlmeier, Internist und Vorsitzender der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW). Russland verfüge über 1900 taktische und 1600 einsatzbereite strategische Atomwaffen. Heutige Atombomben hätten die 1000-fache Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe. „Der Einsatz von Atomwaffen bedroht die Existenz unseres Kontinents“, sagt Pohlmeier. Die Versorgung der Bevölkerung mit Jodtabletten stelle sich also gar nicht.

Mediziner und die Verbraucherzentrale raten von einem vorsorglichen Gebrauch von Jodtabletten in Eigenregie ab. Grundsätzlich sollte eine solche Einnahme nur nach ärztlicher oder im Falle einer Reaktorkatastrophe nach behördlicher Anordnung erfolgen. Denn zu viel Jod ist schädlich – sofern es dauerhaft oder von Menschen mit einer Disposition für eine Autoimmunerkrankung aufgenommen wird, wie die Verbraucherzentrale schreibt.

Die von den Behörden präventiv zum Schutz bei Reaktorunfällen in Heinsberg und anderen Kreisen ausgegebenen Tabletten beinhalten die 500-fache Menge (130 mg) der normalen täglichen Empfehlung zur täglichen Jod-Zufuhr.

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